Benjamin Coulter

Gott straft, weil er liebt


Mein Vater liebt mich

Jede Züchtigung aber, wenn sie da ist, scheint uns nicht Freude, sondern Leid zu sein; danach aber bringt sie als Frucht denen, die dadurch geübt sind, Frieden und Gerechtigkeit. (Heb 12,11)
Als Teenager bat mich ein Freund um Hilfe. Er sprach mit einem Mädchen über Männer, Liebe, Väter und Gott. Sie wurde adoptiert und verstand sich auch mit ihrem zweiten Vater nicht gut und fragte meinen Freund, wie wahre Vaterliebe aussehen könnte. Weil er keine Antwort wusste, fragte er mich nach einem Beispiel. Ich fühlte mich etwas überrumpelt und spürte einen hohen Leidensdruck. Umso mehr überraschte meine Antwort auch mich selbst. Ich sagte: „Ich war mir der Liebe meines Vaters nie so bewusst wie dann, wenn er mich bestraft hat. Ich spürte ihm ab, wie es ihn schmerzte, mich zu bestrafen“.
Mit einer einzigen Ausnahme – die ihm sehr leid tat – hat mich mein Vater nie im Affekt bestraft. Er züchtigte mich äusserst ungern, und nur, wenn er glaubte, mir damit zu helfen. Ich habe das nicht immer verstanden, aber ich wusste immer, dass er das Beste für mich will.
Später sprach ich mit einer anderen Frau über Bestrafung. Sie war sehr erstaunt und fasziniert von meiner Perspektive und erzählte mir: "Weisst du, wenn mein Vater mich verprügelte, war das keine Strafe für mich. Wenn mein Vater mich bestrafen wollte, hat er mich öffentlich beschämt, mich vor anderen erniedrigt.
Es ist ganz natürlich, dass es mir mit meiner Geschichte viel leichter fällt, in der Bibel von einem strafenden Gott zu lesen, als meiner Kollegin mit ihrer Geschichte.
Mir ist schmerzlich bewusst, dass ich hier die Ausnahme bin – nicht meine Kollegin. Mir ist auch schmerzlich bewusst, dass viele Christen tief verletzt sind, weil ihre Eltern liebloses Verhalten paradoxerweise mit Liebe rechtfertigten.
Und doch – ja, gerade weil ich weiss, wie unverschämt das klingt und wie viele Menschen negative Erfahrungen damit gemacht haben, bitte ich dich, mir zu glauben: Es gibt sie wirklich, die Strafe aus Liebe.
Es gefällt Gott nicht, uns zu plagen, schreibt Jeremia in Klagelied 3,33, und doch straft Gott. Gott straft, weil er uns liebt.

Die Strafzwecktheorie

Unser Rechtswesen beruft sich unter anderem auf die Strafzwecktheorie. Demnach bewirkt die Strafe einen Ausgleich von Ungerechtigkeit. Die Strafe soll zudem zu gesellschaftstauglichem Verhalten erziehen, destruktives Verhalten unterdrücken, das Vertrauen in die Obrigkeit stärken und Geschädigte vom Drang entlasten, sich selbst rächen zu müssen. Strafe bedeutet auch, dass der Bestrafende Verantwortung für die Situation übernimmt.
Kriminelles Verhalten wird bei uns von den zuständigen Behörden bestraft. In Kulturen, in denen es üblich ist, sich selbst zu rächen, sehen wir, wie schnell dies zu einem unaufhaltsamen Teufelskreis wird und sich ganze Sippschaften rächen, bis sie sich gegenseitig vollständig vernichten.
Strafe hat immer das Ziel, Menschen vor noch schlimmeren natürlichen Konsequenzen zu beschützen.

Strafe bei Jesaja

Ich will den Erdkreis heimsuchen um seiner Bosheit willen und die Gottlosen um ihrer Missetat willen und will dem Hochmut der Stolzen ein Ende machen und die Hoffart der Gewaltigen demütigen. (Jes 13,11)
Jesaja spricht oft bildhaft von Strafe. Zum Beispiel bezeichnet er Assyrien als die Rute des Zorns, die Gott gegen sein Volk erhebt. Das hebräische Wort מוּסָר (musar) für Strafe, Züchtigung, Disziplinierung kommt bei Jesaja nur zweimal vor, einmal in 26,16, wo die Gezüchtigten Trost suchen bei Gott und in 53,15, wo der Gottesknecht die Züchtigung auf sich nimmt, die sonst uns zustehen würde. Viel häufiger spricht Jesaja von פָּקַד (paqad). Luther übersetzt es gewöhnlich mit "heimsuchen". Das Wort bedeutet, einer Sache grosse Aufmerksamkeit zu widmen, etwas zu zählen oder zu untersuchen, jemanden zu besuchen und zu mustern. Dann aber auch jemanden oder etwas einsetzen oder auferlegen. "Heimsuchen" ist nicht unbedingt negativ, je nach Situation bedeutet es jemandem Würde zuzusprechen, in ein Amt einzusetzen oder eben zu bestrafen.
Wenn wir so von Gott bestraft werden, bedeutet das nicht, dass er uns zurückweist, sondern dass er uns nahekommt, gerade dort, wo wir uns lieber verstecken würden.

Weswegen und wozu?

Aus welchem Grund und zu welchem Zweck straft Gott? Das beschreibt Jesaja in den ersten vier Kapiteln. Nachfolgend eine kurze Zusammenfassung:
Meine Kinder wollen nichts mehr von mir wissen. Es geht ihnen schlecht! Sie sind krank und wundgeschlagen. Niemand ist da, um ihre Wunden zu verbinden. Ihr Land ist verwüstet. Und wenn ich nicht einen Rest bewahrt hätte, wären sie völlig vernichtet.
Begreift ihr es denn nicht? Eure Opfer stinken mir zum Himmel und eure Gebete kann ich nicht ertragen, denn die Hände, die ihr erhebt, sind blutverschmiert. Wascht euch, reinigt euch, lasst das Böse und lernt Gutes zu tun. „So kommt denn und lasst uns miteinander rechten, […] wenn eure Sünde auch blutrot ist, soll sie doch schneeweiss werden, und wenn sie rot ist wie Scharlach, soll sie doch wie Wolle werden“ (1,18).
Du warst treu und wurdest zur Hure, du warst gerecht und wurdest zum Mörder. Dein Reichtum wurde zur Schande und dein Reich wurde korrupt.
Darum will ich die Mächtigen schlagen und alle Ungerechtigkeit ausmerzen. Mein Volk muss durch Gericht erlöst werden. Alle Übeltäter werden vernichtet, wer aber zu mir zurückkehrt, wird Gerechtigkeit erfahren.
Dann werden auch andere Völker nach Jerusalem kommen, weil sie gerichtet werden wollen, um in meiner Gerechtigkeit zu leben. „Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spiesse zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen“ (2,4).
Aber jetzt habe ich euch verstossen, weil ihr Wahrsagerei betreibt, ihr euch auf Reichtum verlässt und andere Götter anbetet. Ihr seid überheblich geworden und auch noch stolz auf eure Sünden. Deshalb werde ich euch demütigen. Ihr werdet euch vor mir verstecken und euch auf Menschen verlassen, die doch nicht helfen können.
Ich werde mit euch ins Gericht gehen, weil ihr euch an den Armen bereichert. Ihr Frauen seid eitel geworden, aber ich werde euch kahl rasieren und euren Schmuck von euch reissen. Eure Schönheit wird vergehen. Und eure Männer werden im Krieg umkommen.
Wer aber übrig bleibt, wird heilig sein, und das Land wird herrlich sein.

Lernen auf die harte Tour

Strafe mag das Böse zurückdrängen, führt aber selten zur Einsicht. Manchmal müssen wir auf die harte Tour lernen, warum wir nicht die Herdplatte anfassen, nicht mit einer Gabel in der Steckdose herumwühlen oder warum wir nicht mit 2 Kränen gleichzeitig eine zu schwere Hauswand anheben sollten. Es wäre absurd (und ich habe es noch nie gesehen), wenn die Strafen, die verhängt werden, um ein solches Verhalten zu unterbinden, schlimmer währen als die tatsächlichen Folgen.
Und so warnt Jesaja vor etwas viel Schlimmerem als Gottes Strafe, nämlich dass Gott irgendwann aufhören wird, uns zu bestrafen.
Im 5. Kap. beschreibt er dies mit dem Bild eines Weinbergs. Wenn Gott seinen Zaun niederreisst, also seine schützende Rechtsordnung nicht mehr durchsetzt und aufhört, Unkraut auszureissen, wird der Weinberg überwuchert, niedergetrampelt und kahlgefressen.

Wenn die Schöpfung zum Gott wird

Darum hat Gott sie in den Begierden ihrer Herzen dahingegeben in die Unreinheit, sodass ihre Leiber durch sie selbst geschändet werden, sie, die Gottes Wahrheit in Lüge verkehrt und das Geschöpf verehrt und ihm gedient haben statt dem Schöpfer, der gelobt ist in Ewigkeit. Amen. (Röm 1,24f)
Die Natur als Schöpfung ist wunderschön. Aber wenn wir sie zum Gott erheben und unsere Moral daran messen, kann es brutaler nicht werden. Schimpansen, die jahrelang Krieg führen, Ameisen, die andere Völker versklaven, Spinnen, die einander fressen, sexuelle Gewalt bei Robben und Enten ... Nenne mir eine Schandtat und ich gebe dir ein Beispiel, wo es natürlich vorkommt. Mit uns ist die ganze Schöpfung von Gott abgefallen. Wenn wir sie anstatt den Schöpfer anbeten, wird es richtig übel. Und genau das lässt Gott zu, aber nur für eine begrenzte Zeit, damit ein Rest von seinem Volk übrig bleibt.
Jesaja fährt weiter im 5. Kapitel mit Weh Rufe: denen, die sich Gottes Rechtsordnung entzogen haben.
Wehe denen, die:
Ist das nicht eine sehr treffende Beschreibung auch für uns heute?

Eine bessere Gerechtigkeit

Gott bestraft uns also, um uns vor Schlimmerem zu bewahren, und er hört auf, uns zu bestrafen, damit wir zur Einsicht kommen. Aber Gott hat noch viel Besseres vor mit uns.
Strafe kann ein Unrecht ausgleichen, wie Moses sprichwörtlich sagt: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (Ex 21,24). Gott verspricht uns aber eine wiederherstellende Gerechtigkeit. Wo das Ungleichgewicht aufgehoben wird, nicht weil beide blind sind, sondern weil beide wieder sehen können.
Wie Gott seine wiederherstellende Gerechtigkeit zu uns bringt und wie das aussehen wird, sind die Themen der nächsten beiden Predigten.
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